Zeit - Wandel und Wechsel

  • Die Zeit geht nicht

    Die Zeit geht nicht, sie stehet still,
    Wir ziehen durch sie hin;
    Sie ist ein Karawanserei,
    Wir sind die Pilger drin.

    Ein Etwas, form- und farbenlos,
    Das nur Gestalt gewinnt,
    Wo ihr drin auf und nieder taucht,
    Bis wieder ihr zerrinnt.

    Es blitzt ein Tropfen Morgentau
    Im Strahl des Sonnenlichts;
    Ein Tag kann eine Perle sein
    Und ein Jahrhundert nichts.

    Es ist ein weißes Pergament
    Die Zeit, und Jeder schreibt
    Mit seinem roten Blut darauf,
    Bis ihn der Strom verteibt.

    An dich, du wunderbare Welt,
    Du Schönheit ohne End',
    Auch ich schreib meinen Liebesbrief
    Auf dieses Pergament.

    Froh bin ich, dass ich aufgeblüht
    In deinem runden Kranz;
    Zum Dank trüb' ich die Quelle nicht
    Und lobe Deinen Glanz.

    Gottfried Keller

    Ein Funke, kaum zu sehen, entfacht doch helle Flammen.  [color=#000000]eg 659

  • Der Radwechsel

    Ich sitze am Straßenhang.
    Der Fahrer wechselt das Rad.
    Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
    Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
    Warum sehe ich den Radwechsel
    Mit Ungeduld?

    Bertold Brecht

    Ein Funke, kaum zu sehen, entfacht doch helle Flammen.  [color=#000000]eg 659

  • Über ein Blatt mit Gedichten

    Über ein Blatt mit Gedichten
    Frisch aus der Schreibmaschine
    läuft ein Insekt
    Ich weiß nicht ob es mir Spaß gemacht hätte
    Aber das weiß ich genau ich hätte es umgebracht
    vor zehn Jahren ohne
    Zögern Was ist anders geworden
    Ich oder die Welt

    Heiner Müller

    Ein Funke, kaum zu sehen, entfacht doch helle Flammen.  [color=#000000]eg 659

  • Ich wünsche dir Zeit

    Ich wünsche dir nicht alle möglichen Gaben
    Ich wünsche dir nur, was die meisten nicht haben
    Ich wünsche dir Zeit, dich zu freu'n und zu lachen
    und wenn du sie nutzt, kannst du etwas draus machen.

    Ich wünsche dir Zeit, nicht nur so zum Vertreiben
    Ich wünsche, sie möge dir übrigbleiben
    als Zeit für das Staunen und Zeit für Vertrauen
    anstatt nach der Zeit auf der Uhr nur zu schauen.

    Ich wünsche dir Zeit für dein Tun und dein Denken
    nicht nur für dich selbst, sondern auch zum Verschenken.
    Ich wünsche dir Zeit, nicht zum Hasten und Rennen,
    sondern die Zeit zum Zufriedenseinkönnen.

    Ich wünsche dir Zeit, nach den Sternen zu greifen
    und Zeit, um zu wachsen, das heißt, um zu reifen.
    Ich wünsche dir Zeit, neu zu hoffen, zu lieben,
    es hat keinen Sinn, diese Zeit zu verschieben.

    Ich wünsche dir Zeit, zu dir selber zu finden,
    jeden Tag, jede Stunde als Glück zu empfinden.
    Ich wünsche dir Zeit, auch um Schuld zu vergeben.
    Ich wünsche Dir: Zeit um zu leben

    Elli Michler

  • Sachliche Romanze

    Als sie einander acht Jahre kannten,
    Und man darf sagen, sie kannten sich gut,
    Kam ihre Liebe plötzlich abhanden
    Wie anderen Leuten ein Stock oder Hut.

    Sie waren traurig, betrugen sich heiter.
    Versuchten Küsse, als ob nichts sei.
    Und sah'n sich an und wußten nicht weiter.
    Da weinte sie schließlich und er stand dabei.

    Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
    Er sagt es wäre schon viertel vor vier
    Und Zeit irgendo Kaffee zu trinken.
    Nebenan übte ein Mensch Klavier.

    Sie gingen ins kleinste Café im Ort
    Und rührten in ihren Tassen.
    Am Abend saßen sie immer noch dort.
    Sie saßen allein und sprachen kein Wort.
    Und konnten es einfach nicht fassen.

    aus »Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke«, DTV, München 1998

    wenn'se wissen was ich meine
    dujunowattaimien
    :lift:


  • Das Jahr der Seele

    Es lacht in dem steigenden jahr dir
    Der duft aus dem garten noch leis
    Flicht in dem flatternden haar dir
    Eppich und ehrenpreis.

    Die wehende saat ist wie gold noch
    Vielleicht nicht so hoch mehr und reich
    Rosen begrüßen dich hold noch
    Ward auch ihr glanz etwa bleich.

    Verschweigen wir was uns verwehrt ist
    Geloben wir glücklich zu sein
    Wenn auch nicht mehr uns beschert ist
    Als noch ein rundgang zu zwein.

    Stefan George

    Ein Funke, kaum zu sehen, entfacht doch helle Flammen.  [color=#000000]eg 659

  • Gieb, alle Kraft dringt vorwärts in die Weite,
    zu leben und zu wirken hier und dort,
    dagegen engt und hemmt von jeder Seite,
    der Strom der Welt und reißt uns mit sich fort,
    in diesem innern Sturm und äußern Streit
    vernimmt der Mensch ein schwer verstanden Wort,
    von der Gewalt, die alle Wesen bindet,
    befreeit der Mensch sich, der sich überwindet.


    (GOETHE)

    irren ist menschlich ;)

  • Wandlung

    Nicht mehr wie einst und ehe
    du hier warst blüht jetzt die Schlehe.

    Die Rispe, die winkende Dolde,
    gehorchen nicht mehr dem Kobolde.

    Ich trau mich nicht mehr mit Flöten
    den Schlummer der Gräser zu röten.

    Und folge nicht mehr den Spuren
    der lautlosen Sonnenuhren.

    Ich muss nun in Welt und Gewändern
    den Zauber der Falten verändern.

    Was brauch ich für Spangen, für Ringe,
    dass mir der Wandel gelinge?

    Nicht mehr mit den blühenden Zweigen
    kann ich die Welt zu mir neigen.

    Sondern rings um mein Haus
    brech ich die Wurzeln heraus.

    Paul Celan

    Ein Funke, kaum zu sehen, entfacht doch helle Flammen.  [color=#000000]eg 659

  • Reisesegen

    Setz leicht den Fuß, begehre kein Verweilen,
    Am Rand der Straße schneide dir den Stab;
    Bleib, der du bist, und durch bestaubte Meilen
    Getröste dich der Pilgerschaft ans Grab.

    Dir zugeteilt, gemeine Gift mit allen,
    Brot, Früchte, Wasser, sollst du nicht verschmähn.
    Den bunten Raub, mit dem sie sich gefallen,
    Laß hinter dir: er hindert dich am Gehn.

    Brich nicht das Herz, wo du das Brot gebrochen,
    Das deine nicht und das der andern nicht;
    Ein freundlich Wort, zur rechten Zeit gesprochen,
    Ein Händedruck, der nicht zuviel verspricht:

    Und dennoch Treue, die sich schickt zu dienen,
    Und Glaube, der nicht fordert und nicht schilt;
    So wird die Welt, die Wüste dir geschienen,
    Zu deinem Werk und deinem Bild.

    Rudolf Alexander Schröder

    Ein Funke, kaum zu sehen, entfacht doch helle Flammen.  [color=#000000]eg 659

  • Als er sich mit vierzig im Spiegel sah
    von Robert Gernhardt

    Seht mich an: der Fuß der Zeit
    trat mir meine Wangen breit.
    Schaut mein Ohr! Die vielen Jahre
    drehten es in's Sonderbare!
    Ach des Kinns! Es scheint zu fliehn,
    will die Lippen nach sich ziehn!
    Ach der Stirn! Die vielen Falten
    drohen mir den Kopf zu spalten!
    Die Nase! O, wie vorgezogen!
    Der Mund! So seltsam eingebogen!
    Der Hals! So krumm! Die Haut! So rot!
    Das Haar! So stumpf! Das Fleisch! So tot!
    Nur die Augen lidumrändert
    strahlen blau und unverändert,
    schauen forschend, klar und mild
    auf's und aus dem Spiegelbild,
    leuchten wie zwei Edelsteine -
    Sind das überhaupt noch meine?


    okay, das Gedicht ist ein wenig krass, denn mit 40 dürfte der heutige Mann ( zumindest manche ) noch etwas ansehlicher erscheinen. Trotzdem finde ich es passend zum Thema!

  • Wie eine Welle
    Hermann Hesse / Mai 1901

    Wie eine Welle, die vom Schaum gekränzt
    Aus blauer Flut sich voll Verlangen reckt
    Und müd und schön im großen Meer verglänzt -

    Wie eine Wolke, die im leisen Wind
    Hinsegelnd aller Pilger Sehnsucht weckt
    Und blaß und silbern in den Tag verrinnt -

    Und wie ein Lied am heißen Staßenrand
    Fremdtönig klingt mit wunderlichen Reim
    Und dir das Herz entführt weit über Land -

    So weht mein Leben flüchtig durch die Zeit,
    Ist bald vertönt und mündet doch geheim
    Ins Reich der Sehnsucht und der Ewigkeit.


    doppelt gepostet, aber es passt halt so gut in beide threads

  • Hingabe

    Ich sehe mir die Bilderreihen der Wolken an,
    Bis sie zerfließen und enthüllen ihre blaue Bahn.

    Ich schwebte einsamlich die Welten all hinan,
    Entzifferte die Sternoglyphen und die Mondeszeichen um den Mann.

    Und fragte selbst mich scheu, ob oder wann
    Ich einst geboren wurde und gestorben dann?

    Mit einem Kleid aus Zweifel war ich angetan,
    Das greises Leid geweiht für mich am Zeitrad spann.

    Und jedes Bild, das ich von dieser Welt gewann,
    Verlor ich doppelt, und auch das was ich ersann.

    Else Lasker-Schüler

    Ein Funke, kaum zu sehen, entfacht doch helle Flammen.  [color=#000000]eg 659

  • Werden im Gehen


    Was bin ich,
    das war ich nicht
    und werde ich nicht sein.
    Zu jeder Stunde bin ich ein anderer,
    niemals bleibe ich stehen.
    Immerzu laufe ich
    vom Tag der Geburt zum Tage des Todes.
    An allen einzelnen Tagen meines Lebens
    ändere ich mich,
    und was geändert wird
    und wie es geändert wird,
    sehe ich nicht.
    Niemals kann ich mein ganzes Leben
    in eins zusammensehen.
    Was ich gestern war,
    bin ich heute nicht,
    so wie ich morgen nicht sein werde,
    was ich heute bin.
    Immerzu werde ich
    in den restlichen Lebensabschnitten
    beweglich und veränderlich sein.
    Von Augenblick zu Augenblick,
    vom Augenblick zur Stunde,
    von Stunden zu Tagen,
    mit allen ungewissen Altersphasen
    eile ich dem Tod entgegen.
    Dann werde ich,
    was für mich hier unmöglich ist,
    das Sichere und Wahre sehen
    und alles zugleich in einem.


    St. Columbanus

    Ein Funke, kaum zu sehen, entfacht doch helle Flammen.  [color=#000000]eg 659

  • Überlass es der Zeit

    Erscheint dir etwas unerhört,
    Bist du tiefsten Herzens empört,
    Bäume nicht auf, versuch's nicht mit Streit,
    Berühr es nicht, überlass es der Zeit.
    Am ersten Tag wirst du feige dich schelten,
    Am zweiten lässt du dein Schweigen schon gelten,
    Am dritten hast du's überwunden;
    Alles ist wichtig nur auf Stunden,
    Ärger ist Zehrer und Lebensvergifter,
    Zeit ist Balsam und Friedensstifter.

    Theodor Fontane

    Ein Funke, kaum zu sehen, entfacht doch helle Flammen.  [color=#000000]eg 659

  • Wandel und Treue

    Violetta
    Ja, du bist treulos! Laß mich von dir eilen;
    Gleich Fäden kannst du die Empfindung theilen.
    Wen liebst du denn? Und wem gehörst du an?

    Narziß
    Es hat Natur mich also lieben lehren:
    Dem Schönen werd' ich immer angehören
    Und nimmer weich ich von der Schönheit Bahn.

    Violetta
    So ist dein Lieben, wie dein Leben, wandern!
    Von einem Schönen eilest du zum Andern,
    Berauschest dich in seinem Taumelkelch,
    Bis Neues schöner dir entgegen winket -

    Narziß
    In höh'rem Reiz Betrachtung dann versinket
    Wie Bienenlippen in der Blume Kelch.

    Violetta
    Und traurig wird die Blume dann vergehen
    Muß sie sich so von dir verlassen sehen!

    Narziß
    O Nein! es hat die Sonne sie geküßt.
    Die Sonne sank, und Abendnebel thauen.
    Kann sie die Strahlende nicht mehr erschauen,
    Wird ihre Nacht durch Sternenschein versüßt.
    Sah sie den Tag nicht oft im Ost verglühen?
    Sah sie die Nacht nicht thränend still entfliehen?
    Und Tag und Nacht sind schöner doch als ich.
    Doch flieht ein Tag, ein Andrer kehret wieder;
    Stirbt eine Nacht, sinkt eine Neue nieder
    Denn Tröstung gab Natur in jedem Schönen sich.

    Violetta
    Was ist denn Liebe, hat sie kein Bestehen?

    Narziß
    Die Liebe will nur wandlen, nicht vergehen;
    Betrachten will sie alles Trefliche.
    Hat sie dies Licht in einem Bild erkennet,
    Eilt sie zu Andern, wo es schöner brennet,
    Erjagen will sie das Vortrefliche.

    Violetta
    So will ich deine Lieb' als Gast empfangen;
    Da sie entfliehet wie ein satt Verlangen,
    Vergönnt mein Herz Ihr keine Heimath mehr.

    Narziß
    O sieh den Frühling! gleicht er nicht der Liebe?
    Er lächelt wonnig, freundlich, und das trübe
    Gewölk des Winters, niemand schaut es mehr!
    Er ist nicht Gast, er herrscht in allen Dingen,
    Er küßt sie Alle, und ein neues Ringen
    Und Regen wird in allen Wesen wach.
    Und dennoch reißt er sich aus Tellus Armen,
    Auch andre Zonen soll sein Hauch erwarmen
    Auch Andern bringt er neuen, schönen Tag.

    Violetta
    Hast du die heil'ge Treue nie gekennet?

    Narziß
    Mir ist nicht Treue, was ihr also nennet,
    Mir ist nicht treulos was euch treulos ist! -
    Wer den Moment des höchsten Lebens theilet;
    Vergessend nicht, in Liebe selig weilet;
    Beurtheilt noch, und noch berechnet, mißt;
    Den nenn' ich treulos, ihm ist nicht zu trauen
    Sein kalt Bewußtseyn wird dich klar durchschauen
    Und deines Selbstvergessens Richter seyn.
    Doch ich bin treu! Erfüllt vom Gegenstande
    Dem ich mich gebe in der Liebe Bande
    Wird Alles, wird mein ganzes Wesen seyn.

    Violetta
    Giebt's keine Liebe denn, die dich bezwinge?

    Narziß
    Ich liebe Menschen nicht, und nicht die Dinge,
    Ihr Schönes nur, und bin mir so getreu.
    Ja Untreu' an mir selbst wär andre Treue,
    Bereitete mir Unmuth, Zwist und Reue,
    Mir bleibt nur so die Neigung immer frei.
    Die Harmonie der inneren Gestalten
    Zerstören nie die ordnenden Gewalten,
    Die für Verderbniß nur die Noth erfand. -
    Drum laß mich, wie mich der Moment gebohren.
    In ew'gen Kreisen drehen sich die Horen;
    Die Sterne wandeln ohne festen Stand,
    Der Bach enteilt der Quelle, kehrt nicht wieder
    Der Strom des Lebens woget auf und nieder
    Und reisset mich in seinen Wirbeln fort.
    Sieh alles Leben! Es ist kein Bestehen,
    Es ist ein ew'ges Wandern, Kommen, Gehen,
    Lebend'ger Wandel! buntes, reges Streben!
    O Strom! in dich ergießt sich all mein Leben!
    Dir stürz ich zu! vergesse Land und Port!

    Karoline von Günderrode
    (1780 - 1806)

  • Tröste dich, die Stunden eilen,
    Und was all dich drücken mag,
    Auch das Schlimmste kann nicht weilen,
    Und es kommt ein andrer Tag.

    In dem ew'gen Kommen, Schwinden,
    Wie der Schmerz liegt auch das Glück,
    Und auch heitre Bilder finden
    Ihren Weg zu Dir zurück.

    Harre, hoffe. Nicht vergebens
    Zählest Du der Stunden Schlag:
    Wechsel ist das Los des Lebens,
    Und - es kommt ein andrer Tag.

    Theodor Fontane

    Ein Funke, kaum zu sehen, entfacht doch helle Flammen.  [color=#000000]eg 659