Das Märchen vom Zauberstein
Ach, ich freue mich, daß Du in meinen Besitz gelangt bist, Zauberstein.
Auf Umwegen, die eigentlich gar keine sind,hab ich Dich gefunden oder Du mich?
Seitdem es Dich gibt, ist Frieden eingekehrt in mein ganzes Leben, in meine Seele, in mein Herz. Tiefer innerer Friede und blindes Vertrauen in die Zukunft, daß tatsächlich alles gut wird. Auch wenn ich manchmal in meiner Ungeduld nicht sofort nachvollziehen kann, warum Dinge nicht auf Anhieb so funktionieren, wie ich es gern hätte.Erst später sehe ich dann oft ein, warum es sich so und nicht anders entwickelt hat.
Viele Dinge brauchen einfach Zeit. Inneren Frieden,wie lange hab ich den nicht mehr gespürt. Wie wertvoll gerade heute in unserer schnelllebigen Zeit, wo nur noch Streß und Hektik unser Leben zu beherrschen scheinen. Keine Zeit für Ruhe, für Besinnlichkeit, für Entspannung. Dankbarkeit durchströmt meinen Körper, endlich den Zauberstein gefunden zu haben, der mir soviel Gutes schenkt.Ich fasse in meine Hosentasche, um das Gefühl der glatten Oberfläche zu genießen, das Kleinod mit zärtlichen Fingerspitzen zu streicheln, den Stein zu fühlen. Den Stein? Du wirst staunen, der Zauberstein besteht nämlich aus zwei Steinen. Komisch, was? Aber so ist es nun mal.Zwei unterschiedliche Steine in Farbe, Form und Oberfläche bilden den Zauberstein. Ich wollte es anfangs auch nicht glauben, aber der Stein hat mit mir gesprochen. Er hat mir erzählt, daß er zwar aus zwei Steinkörpern besteht, aber nur ein einziger Zauberstein ist. Nur beide Hälften ergeben ein Ganzes.Gleich, als der Stein auf dem Küchentisch lag, fing er an mich zu faszinieren. Er übte eine magische Wirkung aus, ich streckte meine Hand automatisch nach ihm aus. Ein wenig mußte ich ihn mir erkämpfen, weil auch andere Hände danach griffen. Für die anderen waren es neben Muscheln nur einfache Strandmitbringsel, Steine eben. Ich wußte auf Anhieb, in meinem Leben würde er ab sofort eine besondere Rolle spielen, ein Zauberstein, der sogleich begann, mit mir zu sprechen. Er erzählte, daß er meine Körperwärme und meine Streicheleinheiten braucht, um alle Kraft, die in ihm steckt, auf mich übertragen zu können. Wunderbar, neue Kraft für Körper und Geist. Genau das, was ich so dringend brauche, um den ganz normalen Alltag zu bewältigen. Wie oft habe ich mich in letzter Zeit gefragt, wo ich neue Kraft tanken kann. Ich fühlte mich so leer und ausgebrannt. Schließlich bin ich ja ein Mensch und kein Auto, das nur an der Tankstelle wieder mit Benzin nachgefüllt wird. Immerhin hat für Menschen noch niemand eine solche Krafttankstelle erfunden. Und jetzt das! Ein Kraftakku, in meiner Tasche. Ein Wunderstein, für andere etwas ganz normales, aber für mich das Wunder überhaupt. Aber ich hatte schon immer eine gute Beziehung zu Steinen, selbst als Kind übten sie diese einzigartige Faszination auf mich aus. Ich erfreute mich an ihnen, nahm sie liebevoll in die Hand, bewunderte ihre Formen, Flächen, ihre Farbschattierungen. Und jetzt besitze ich den König der Steine, den es unter seinesgleichen nur ein einziges Mal gibt. Er hat mich ausgesucht, solch ein kleines Würstchen, dem es so einigermaßen gut ging im Leben, mit Abstrichen, dem es über lange Jahre nicht an materiellen, sondern an emotionalen Dingen gefehlt hat. Wie ein Waisenkind, das versorgt wird, aber keine Liebe bekommt, wenig Wärme, wenig Zärtlichkeit, wenig Streicheleinheiten. Ich kann es immer noch nicht fassen, ich, wirklich ich, der Besitzer vom Zauberstein! Kann ich jetzt alle Menschen, die ich gerne mag, die ich liebe, mit der Kraft des Steins glücklich machen? Funktioniert es wohl, daß ich Kraft und Frieden, die der Stein ausströmt, weitergebe an die Menschen, die es brauchen? Kann ich das Medium sein, das diese wundersamen Dinge weiterleitet, damit diese anderen ihre Kraftreservekanister durch mich wieder auffüllen könne? Ich glaube noch an Wunder und an die Zauberkraft des Steins. Könnte ich jetzt in die Zukunft schaun, dann könnte ich seine Kraftstromwege verfolgen. Eins weiß ich ganz sicher, niemand darf etwas von ihm erfahren. Er und ich bilden diese einmalige Einheit, wie auch die beiden Steine diese einzigartige Einheit bilden, die niemand anders teilen und erfahren kann. Wir beide besitzen das größte Geheimnis der Welt. Und Geheimnisse behält man für sich, nicht wahr, Zauberstein? Und wenn er nicht gestorben ist, dann lebt er auch noch heute, denn Steine sind unsterblich.
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Birgit Mertens