...und täglich grüsst der Nikolaus

  • Fortsetzung...

    "Aber, mein Sohn", sprach Abgarus,"das sind mystische Zahlen. Wer kann ihre Bedeutung enträtseln?" Artaban erwiderte: "Meine drei Gefährten unter den Magiern - Kaspar, Melchior, Balthasar - und ich haben die alten Tafeln Chaldäas durchforscht und die Zeit errechnet. Sie fällt auf dieses Jahr. Wir haben den Himmel studiert, und in diesem Frühling sahen wir im Zeichen der Fische, welches das Haus der Hebräer ist, zwei der größten Sterne sich einander nähern. Und dort sahen wir auch einen neuen Stern, der eine Nacht schien und dann verschwand. Jetzt begegnen sich die beiden großen Planeten abermals. Heute Nacht stehen sie in Konjunktion. Meine drei Brüder beobachten im alten Tempel der Sieben Sphären zu Borsippa in Babylonien, und ich beobachte hier. Wenn der Stern wieder erscheint, werden wir in zehn Tagen zusammen nach Jerusalem aufbrechen, um den Verheißenen zu besuchen und anzubeten, der zum König von Israel geboren werden wird. Ich glaube, das Zeichen wird eintreten. Ich habe mich gerüstet für die Reise. Ich habe mein Haus und meinen Besitz veräußert und diese Juwelen gekauft, einen Saphir, einen Rubin, und eine Perle, um sie den König als Tribut zu bringen. Und ich bitte euch, mit mir auf die Wallfahrt zu gehen, damit wir gemeinsam den Fürsten finden."
    Aus dem innersten Bausch seines Gürtels zog er drei herrliche Kleinode - eins blau wie ein Stück des nächtlichen Himmels, eins röter als ein Strahl des Sonnenaufgangs, eins rein wie ein Schneegipfel im Zwielicht.
    Doch seine Gefährten schauten befremdet und abweisend drein wie Menschen, die unglaublichen Reden zugehört haben oder dem Vorschlag zu einem unmöglichen Unterfangen.
    Endlich sprach Tigranes:"Artaban, dies ist ein eitler Traum. Das kommt von dem vielen Sterngucken und dem Hegen hochfliegender Gedanken. Aus dem zerbrochenen Geschlecht Israel wird ein König erstehen. Und der ewige Kampf von Licht und Dunkel wird niemals ein Ende finden. Wer danach sucht, hascht nach Schatten. Lebe wohl."
    Und einer nach dem anderen sagten auch die übrigen, diese Suche sei nichts für sie, aber sie wünschten ihm Glück auf den Weg. Doch Abgarus, der Älteste, der noch zurückblieb, nachdem die anderen gegangen waren, sagte ernst:"Mein Sohn, mag sein, dass das Licht der Wahrheit in diesem Zeichne leuchtet, das am Himmel erschienen ist; mag auch sein, es ist nur ein Schatten des Lichts, wie Tigranes sagt. Aber besser, auch nur dem Schatten des Besten folgen als sich zufrieden zugeben mit dem Schlechtesten. Und wer wunderbare Dinge sehen will, der muss oft bereit sein, allein zu reisen. Ich bin zu alt für diese Fahrt, aber mein Herz wird auf der Reise dein Gefährte sein Tag und Nacht. Gehe in Frieden."
    So gingen sie einer nach dem anderen aus dem azurenen Gemach mit den silbernen Sternen, und Artaban blieb allein zurück. Lange Zeit beobachtete er die Flamme, die auf dem Altar flackerte und zusammensank. Dann hob er den schweren Vorhang auf und schritt zwischen den mattroten Porphyrsäulen hinaus auf die Dachterasse.
    Das Frösteln, das die Erde durchschauert, ehe sie von ihrem Nachtschlaf erwacht, hatte schon begonnen, und von den erhabenen, schneegezeichneteten Schluchten des Orontes herab wehte der kühle Hauch, der den Tagesanbruch ankündigt. Vögel, halb erwacht huschten zwitschernd durch das raschelnde Laub, und von den Lauben herüber wehte in Wellen der Duft reifer Trauben.
    Über der östlichen Ebene weißer Nebel wie ein See. Doch wo die fernen Gipfel des Zagrosgebirge den westlichen Horizont durchzuckten, war der Himmel klar. Jupiter und Saturn rollten in eins, wie züngelnde Flammentropfen verschmelzen.
    Während Artaban sie beobachtete, siehe, da entsprang aus der Dunkelheit unter ihnen ein blauer Funke, der sich purpurglänzend zu einem karminroten Ball rundete und dann durch Strahlen von Safran und Orange zu einem weißen Glutpunkt aufschloss. Winzig und unendlich fern, doch vollkommen, flimmerte er in dem gewaltigen Gewölbe, als hätten sich die drei Juwelen des Magiers vermischt und verwandelt zu einem lebenden Lichtherzen.
    Er beugte das Haupt. "Das ist das Zeichen", sagte er. " Der König kommt und ich will ihm entgegengehen."


    An den Wassern von Babylon

    Die ganze Nacht hatte Vasda, das schnellste von Artabans Pferden, gesattelt und gezäumt in seinem Stall gewartet, ungeduldig den Boden scharrend und das Gebiss schüttelnd. Bevor noch die Vögel recht auf waren zu ihrem hohen, freudigen Morgenlied und noch ehe der Nebel sich träge von der Ebene hob, war der vierte Weise schon im Sattel und trabte auf der Straße, die am Fluss des Orontes entlangführte, rasch nach Westen.
    Wie eng, wie vertraut ist die Kameradschaft zwischen Reiter und Lieblingspferd auf einer langen Reise! Sie trinken von der gleichen Quelle am Wegrand, schlafen unter den gleichen schützenden Sternen. Der Herr teilt mit seinem hungrigen Gesellen sein abendliches Mahl und spürt die weichen Lippen, während sie sich den Brotbrocken holen, seine Handfläche liebkosen. Im Morgengrauen wird er vom sanften Fächeln eines warmduftenden Atems von seinem Lager geweckt und blickt auf in die Augen seines treuen Weggefährten, der bereitsteht und wartet auf die Mühsal des Tages. Und dann trommeln durch die beißende Morgenluft die geschwinden Hufe im Takt zum Schlag zweier Herzen ihre frische Stakkatomusik.
    Artaban musste klug und kräftig zureiten, um die mit den anderen Magiern vereinbarte Frist einzuhalten; denn der Weg führte über 150 Parasangen, und 15 Parasangen waren das Äußerste, was er an einem Tag schaffte. Aber er trabte unbesorgt dahin und legte jeden Tag die abgemessene Strecke zurück,obwohl er bis in die Nacht und morgens lange vor Sonnenaufgang im Sattel sein musste.
    Er ritt die braunen Hänge des Orontes entlang, die von den Felsbetten Hunderter von Gießbächen durchfurcht waren.
    Er durchquerte die weite nisäische Ebene, wo die berühmten Pferdeherden, die auf den weiten Weiden grasten, bei Vasdas Annäherung die Köpfe hochwarfen und mit vielhufigem Donner davongaloppierten und Schwärme wilder Vögel sich aus den sumpfigen Wiesen erhoben und mit dem Rauschen unzähliger Flügel und schrillem Fluchtgeschrei weite Kreise zogen.
    Er durchritt die fruchtbaren Felder von Konkabar, wo der Staub von den Dreschtennen die Luft mit einem goldenen Nebel sättigte, der den Riesentempel der Astarte mit seinen 400 Säulen verhüllte.
    In Bagistana zwischen den üppigen, von Felsenquellen bewässerten Gärten blickte er auf zu dem Berg, der sein enormes Antlitz über die Straße erhob, und sah die Gestalt des Königs Dareios, wie er seine besiegten Feinde unter die Füße trat, und die stolze Liste seiner Kriege und Eroberungen hoch eingegraben in die ewige Felswand.
    Über manch kalten und wüsten Pass, in mühsamem Schritt über windgepeitschte Bergflanken; durch manch schwarze Schlucht, wo der Fluss vor ihm röhrte und toste; durch manch lächelndes Tal mit Terrassen gelben Kalkgesteins voller Reben und Obstbäume; durch die Eichenhaine von Karin und die dunklen Tore des Sagros, ummauert von Steilhängen; über die weiten Reisfelder, wo die Herbstnebel ihre tödlichen Dünste verbreiteten; dem Gyndesufer nach, unter den zitternden Schatten von Tamarinden und Pappeln dahin, durch die flacheren Berge, dann hinaus auf die Ebene, wo die Straße pfeilgerade durch Stoppelfelder und verbrannte Wiesen verlief; über die vielen Kanäle des Euphrat - rastlos ritt Artaban zu, bis er am Abend des zehnten Tages vor den zerstörten Mauern des volkreichen Babylon anlangte.
    Gern wäre er in die Stadt eingebogen, um Rast und Erfrischung für sich und Vasda zu finden. Aber es waren noch drei Stunden Ritt bis zum Tempel der Sieben Sphären, und den musste er bis Mitternacht erreichen, wollte er seine wartenden Gefährten noch antreffen. So ritt er stetig weiter.
    Ein Dattelpalmenhain bildete eine düstere Insel im blassgelben Meer der Stoppelfelder, und als Vasda in den Schatten gelangte, verfiel sie in gemächlicheren Trott.
    Der Hain war dumpf und schweigend wie das Grab; nicht ein Blatt raschelte, nicht ein Vogel sang. Gefahr oder Unheil witternd, schritt Vasda mit gesenktem Kopf vorsichtig ihres Wegs. Endlich stieß sie einen kurzen, ängstlichen Schnaufer aus und blieb, in jedem Muskel zitternd, vor einem dunklen Etwas im Schatten der letzten Palme stehen.
    Artaban stieg ab. Das trübe Sternenlicht ließ die Gestalt eines Mannes erkennen, der mitten im Weg lag, einen der armen hebräischen Verschleppten, die immer noch in großer Zahl in der Gegend hausten. Seine Haut war trocken und gelb wie Pergament und trug die Zeichen des tödlichen Fiebers, das zur Herbstzeit in den Sümpfen wütete. Seine Hand hatte die Kälte des Todes, und der losgelassene Arm sank leblos zurück
    Artaban wandte sich ab. Mitleidig überantwortete er in Gedanken den Toten der Bestattung, die die Magier für die angemessenste hielten - der Leichenfeier der Wüste, von der sich die Geier auf dunklem Fittich erheben und Raubtiere sich leise drücken, um nur einen Haufen weißer Knochen im Sand zurückzulassen. Doch als er im Begriff war zu gehen, entrang sich den Lippen des Mannes ein unheimlicher Seufzer, und die knochigen Finger krallten sich in den Gewandsaum des Magiers.
    In dumpfem Unwillen über das Missgeschick war Artabans Geist hin und her gerissen. Welchen Anspruch hatte dieses unbekannte Menschenwrack auf seine Dienste? Wenn er sich auch nur eine Stunde aufhielt, konnte er Borsippa kaum noch zur festgesetzten Zeit erreichen; seine Gefährten würden ohne ihn aufbrechen. Sollte er der Nachfolge des Sterns untreu werden, die große Belohnung seines heiligen Glaubens aufs Spiel setzen, nur um einen armen, todgeweihten Hebräer einen Becher Wasser zu reichen?
    "Gott der Wahrheit und Reinheit", betete er, "leite mich auf dem heiligen Pfad, dem Weg der Weisheit, den allein Du kennst."


    gleich geht es weiter.....

  • Fortsetzung......


    Dann wandte er sich zurück zu dem hilflosen Bündel. Er trug es zum Fuß der Palme, wickelte den Turban ab und öffnete das Gewand über der eingesunkenen Brust. Von einem der kleinen Kanäle in der Nähe holte er Wasser, um des Leidenden Stirn und Mund zu benetzen. Aus einer der einfachen, aber wirksamen Arzneien, die er immer im Gürtel trug (denn die Magier waren nicht nur Sterndeuter, sondern auch tüchtige Ärzte), mischte er einen Trank und flöße ihn behutsam den farblosen Lippen ein. Stunde um Stunde mühte er sich, und endlich kehrte des Mannes Kraft zurück. Er richtete sich auf und blickte um sich. " Wer bist du?" fragte er.
    "Ich bin Artaban der Magier. Ich bin auf der Reise nach Jerusalem, auf der Suche nach einem, der geboren werden soll, um ein großer Fürst und Retter aller Menschen zu werden. Ich darf mich nicht länger aufhalten. Aber sieh, hier ist alles, was ich an Brot und Wein übrig habe, und ein Trank aus heilenden Kräutern. Wenn deine Kraft wiederhergestellt ist, kannst du die Wohnungen der Hebräer in den Häusern Babylons erreichen."
    Feierlich hob der Jude seine zitternde Hand zum Himmel. "Möge der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs die Reise des Barmherzigen segnen und glücken lassen. Ich habe nichts, was ich dir zum Dank geben könnte - nur dies; dass unsere Propheten sagen, der Messias werde nicht in Jerusalem geboren werden, sondern in Bethlehem in Juda. Möge der Herr dich in Frieden und Sicherheit dorthin bringen."
    Es war schon weit über Mitternacht. Artaban sputete sich, und Vasda, erquickt von der Rast, flog über den Boden wie eine Gazelle. Doch der erste Sonnenstrahl schickte schon Schatten vor sich her, als sie sich dem Ziel der Reise näherten, und die Augen Artabans, die gespannt den hohen Nimrudhügel und den Tempel der Sieben Sphären musterten, konnte keine Spur von seinen Freunden mehr entdecken.
    Rasch umritt er den Hügel mit seinen zerfallenen Terrassen aus bunten Ziegeln. Er saß ab, erklomm die oberste Terrasse und spähte nach Westen aus. Die weite Ode der Sümpfe erstreckte sich bis zu Horizont und zur Grenze der Wüste. Rohrdommeln standen an den trägen Teichen, und Schakale schlichen durch das niedrige Buschwerk, aber von der Karawane der Weisen war weit und breit nichts mehr zu sehen.
    Am Rand der Terrasse stieß er auf ein kleines Steinmal aus Ziegeltrümmern, und darunter fand er ein Stück Pergament. Er las: "Wir können nicht länger warten. Wir gehen auf die Suche nach dem König. Folge uns durch die Wüste."
    Artaban setzte sich auf den Boden und verhüllte in Verzweiflung sein Haupt.
    "Wie kann ich die Wüste durchqueren", dachte er, "ohne Nahrung und mit einem erschöpften Pferd? Ich muss zurück nach Babylon, mich von meinem Saphir trennen und einen Trupp Kamele und Proviant für die Reise kaufen. Gott der Barmherzige allein weiß, ob ich nicht um den Anblick des Königs kommen werde, weil ich mich damit aufgehalten habe, mitleidig zu handeln."


    Um eines Kindes willen
    Im Reich der Träume entstand eine Stille. Und durch diese Stille sah ich, aber nur sehr verschwommen, die Gestalt des vierten Weisen, wie sie hoch auf dem Rücken des Kamels, das stetig voranschaukelte wie ein Schiff auf dem Ozean, die tristen Wellen der Wüste durchquerte.
    Das Land des Todes umfing ihn mit seinem grausamen Netz. Die steinigen Oden trugen keine Frucht außer Gestrüpp und Dornen. Karge, unwirtliche Bergketten erhoben sich vor ihm, durchfurcht von den trockenen Betten versiegter Sturzbäche. Wandernde Hügel trügerischen Sandes zogen sich wie Grabhügel über den Horizont. Bei Tag lastete die wütende Hitze mit unerträglicher Bürde auf der zitternden Luft, und kein lebendes Geschöpf regte sich außer winzigen Wüstenspringmäusen, die durch die verdorrten Büsche hüpften, und Eidechsen, die in die Felsspalten huschten. Bei Nacht streiften in der Ferne heulende Schakale, während dem Fieber des Tages schneidende Kälte folgte. Durch Hitze und Frost verfolgte der Magier seinen Weg.
    Dann sah ich die Blumen- und Fruchtgärten von Damaskus, gewässert von den Flüsschen Abana und Pharpar, die Rasenhänge bestickt mit Blüten. Ich sah den langen, schneeigen Rücken des Hermon, die dunklen Zedernhaine, das Jordantal, die blauen Wassers des Sees Genezareth und weit in der Ferne das Hochland von Juda.
    Durch all diese Landschaften wanderte Artaban unermüdlich. Dann gelangte er erschöpft, aber voll Hoffnung nach Bethlehem; noch hatte er ja den Rubin und die Perle, die er dem König schenken wollte. "Jetzt endlich", sagte er sich, "werde ich ihn gewiss finden, wenn auch allein und später als meine Mitbrüder."
    Die Straßen des Dorfes wirkten verödet. Aus der offenen Tür eines niedrigen Bauernhäuschens hörte Artaban den Klang einer leise singenden Frauenstimme. Er trat ein und fand eine junge Mutter, die ihr Kind in den Schlaf wiegte. Sie erzählte ihm von den Fremden aus dem fernen Morgenland, die vor drei Tagen im Dorf erschienen waren. Ein Stern, hatten sie gesagt, habe sie zu dem Ort geleitet, wo Joseph von Nazareth mit seiner Frau Maria und ihrem neugeborenen Kind Jesus weilte. Sie erzählte, wie sie dem Kind gehuldigt und ihm Gaben von Gold, Weihrauch und Myrrhe zu Füßen gelegt hatten.
    "Aber die Fremden verschwanden wieder, so plötzlich wie sie gekommen waren. Die Wunderlichkeit ihres Besuchs machte uns bange. Die Familie aus Nazareth ist in der gleichen Nacht fortgegangen, und es wurde geflüstert, sie wolle weit weg flüchten, bis nach Ägypten. Seither hängt etwas Unheimliches über dem Dorf. Es heißt, dass römische Soldaten aus Jerusalem kommen sollen, um eine neue Steuer einzutreiben, und unsere Männer haben die Herden bis in die Berge getrieben und verstecken sich dort, um der Steuer zu entgehen."
    Das Kind in ihren Armen sah zu Artaban auf und lächelte, die rosigen Händchen nach ihm ausstreckend. Ihm wurde warm ums Herz, als sie ihn berührten. "Hätte nicht auch dieses Kind der verheißene Fürst sein können?" fragte er sich, während er ihm über die weiche Wange strich. "Könige sind schon in ärmlicheren Hütten als dieser zur Welt gekommen, und der Liebling der Sterne kann auch einem Bauernhaus entstammen. Doch nein, es hat dem Gott der Weisheit nicht gefallen, meine Suche so leicht zu lohnen. Der, den ich suche, ist mir entschwunden, und jetzt muss ich ihm nach Ägypten folgen."
    Die junge Mutter legte das Kind in seine Wiege und setzte dem fremden Gast, den ihr das Schicksal ins Haus gebracht hatte, Speise vor. Es war das einfache Mahl von Bauern, aber gern gespendet und darum voller Erquickung für Leib und Seele. Während Artaban aß, fiel das Kind in einen sanften Schlummer und lallte in seinen Träumen leise vor sich hin.
    Plötzlich erscholl von der Straße her der Lärm eines wilden Auflaufs, ein Kreischen und Wehklagen von Frauenstimmen, Trompetengeschmetter und ein verzweifelter Schrei: "Soldaten! Die Soldaten des Herodes! Sie bringen unsere Kinder um!"
    Weiß vor Schreck verkroch sich die junge Mutter in die finsterste Ecke des Raums und blieb dort reglos hocken, wobei sie das Kind mit den Falten ihres Gewandes bedeckte, damit es nicht erwachte und schrie. Artaban aber stand auf und stellte sich in den Eingang der Hütte, und seine breiten Schultern füllten die Tür von einem Balken zum anderen.
    Die Soldaten mit ihren blutigen Händen und triefenden Schwertern zögerten beim Anblick des Fremden in seinem achtunggebietenden Kleid. Der Hauptmann erschien und machte Anstalten, ihn zur Seite zu drängen. Doch Artabans Miene war so ruhig, als beobachte er die Sterne, und in seinem Blick brannte jene stetige Glut, vor der sich selbst der halbzahme Jagdleopard duckt. Schweigend hielt er den Soldaten für einen Augenblick gebannt, dann sagte er leise: "Ich bin allein in diesem Haus und warte darauf, dieses Kleinod dem klugen Hauptmann zu geben, der mich in Frieden läßt."
    Er ließ den Rubin sehen, der in der Höhlung seiner Hand gleißte wie ein großer Blutstropfen. Vor dem Glanz des Juwels war der Hauptmann sprachlos. Die Pupillen seiner Augen weiteten sich vor Begehrlichkeit, und er streckte die Hand nach dem Rubin aus.
    "Weitersuchen!" rief er seinen Männern zu. "Hier ist kein Kind."
    Während Stimmengewirr und Waffenklirren sich die Straße hinab entfernten, wandte Artaban das Gesicht nach Osten und betete: "Gott der Wahrheit, vergib mir meine Sünde! Ich habe gesagt, was nicht wahr ist, um das Leben eines Kindes zu retten. Und zwei meiner Geschenke sind dahin. Ich habe für Menschen hingegeben, was für Gott bestimmt war. Werde ich jemals würdig sein, das Angesicht des Königs zu sehen?"
    Doch die Frau, die im Schatten hinter ihm vor Freude weinte, sagte sacht: "Der Herr segne Euch und behüte Euch; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über Euch und sei Euch gnädig; der Herr erhebe sein Angesicht auf Euch und gebe Euch Frieden."

    gleich geht es weiter........

  • Fortsetzung....

    Der Weg des Leidens
    Dann trat im Reich der Träume wieder Stille ein, und ich begriff, dass unter dem tiefen, geheimnisvollen Schweigen Artabans Jahre rasch dahinflogen. Nur hier und da erhaschte ich einen Blick auf den Fluss seines Lebens, der durch die verhüllenden Schatten blinkte.
    Ich sah ihn umherwandeln unter den Massen im volkreichen Ägypten, überall auf der Suche nach der Familie, die von Bethlehem herabgekommen war. Er fand Spuren unter den ausladenden Sykomoren von Heliopolis und unter den Mauern der römischen Festung Neu-Babylon am Nil. Doch sie waren so schwach und verschwommen, dass sie sich ständig vor ihm auflösten, wie Fußtritte im harten Flußsand einen Augenblick feucht aufgleissen und dann verschwinden.
    Ich sah ihn wieder am Fuß der Pyramiden, der Denkmäler des vergänglichen Ruhms und der unvergänglichen Hoffnung der Menschen. Er blickte auf das breitflächige Antlitz der kauernden Sphinx und mühte sich, die Bedeutung dieses unergründlichen Lächelns zu entschlüsseln. War es tatsächlich nur Spott über alles Trachten und Streben - der grausame Scherz eines Rätsels, das keine Antwort kennt, einer Suche, die nie zum Ziel führt? Oder lag darin eine Spur von Ermutigung - eine Verheißung, dass selbst die Besiegten noch triumphieren, die Blinden sehen und die Unsteten endlich eine Zuflucht finden sollen?
    Ich sah ihn wieder in einem unscheinbaren Haus in Alexandria, wo er bei einem Rabbi Rat suchte. Der ehrwürdige Mann, über die Pergamentrollen gebeugt, las laut die Prophezeiungen, die das Leiden des verheißenen Messias vorhersagten - eines gepeinigten Gottesknechtes, verachtet und verschmäht von den Menschen.
    "Und bedenke, mein Sohn", sagte er, die tiefliegenden Augen fest auf Artaban gerichtet, "der König, den du suchst, ist nicht in einem Palast zu finden in irdischem Glanz. Das Licht, auf das die Welt wartet, ist ein neues Licht: die Herrlichkeit, die erwachsen wird aus geduldigem, siegreich bestandenem Leiden. Und das Königreich ist ein neues Reich, die Herrschaft der vollkommenen, unüberwindlichen Liebe. Ich weiß nicht, wie dies geschehen wird, und ich weiß nicht, wie die eigensüchtigen, zerstrittenen Herrscher und Völker der Erde dazu gebracht werden sollen, den Messias anzuerkennen. Doch soviel weiß ich: Wer ihn sucht, wird gut daran tun, zu suchen unter den Armen und Niedrigen, den Mühseligen und Beladenen."
    So sah ich den vierten Weisen wieder und wieder, reisend und suchend unter den Menschen in der Zerstreuung, bei denen die Familie aus Bethlehem ein Unterkommen gefunden haben mochte. Er durchwanderte Zonen, wo Hungersnot schwer auf dem Land lastete und die Armen nach Brot schrien. Er weilte in verpesteten Städten, wo die Kranken im Elend dahinsiechten. Er besuchte die Bedrängten in der Nacht unterirdischer Kerker, im Elendsgedränge der Sklavenmärkte, in der lastenden Fron der Galeeren. In dieser ganzen übervölkerten Leidenswelt fand er zwar niemanden, den er hätte anbeten können, aber viele, denen geholfen werden musste. Er speiste die Hungernden, heilte die Kranken und tröstete die Gefangenen; und seine Jahre flogen schneller vorüber als das Schiffchen, das durch den Webstuhl schießt, während das unsichtbare Muster sich vollendet.
    Fast schien es, als habe er seine Suche vergessen. Doch einmal sah ich ihn einen Augenblick, wie er bei Sonnenaufgang allein vor dem Tor eines römischen Gefängnisses wartete. Aus dem Versteck an seiner Brust hatte er die Perle gezogen, das letzte seiner Kleinode. Während er sie betrachtete, lief über das Rund ein milderer Glanz, ein weiches Farbenspiel von Azur und Rosenrot. Es war, als hätte sie einen Widerschein der verlorenen Steine, des Saphirs und des Rubins, an sich gezogen - wie zum tiefen, geheimen Sinn eines würdigen Lebens die Erinnerung an vergangene Freuden und Leiden gehört, durch einen stillen Zauber umgeschmolzen in ihr innerstes Wesen. Um so leuchtender und kostbarer wird das Kleinod, je länger es an der Wärme des schlagenden Herzens getragen wird.
    Da endlich, als ich über die Perle und ihre Bedeutung nachsann, hörte ich das Ende der Geschichte vom vierten Weisen.

    gleich geht es weiter.......

  • Fortsetzung....

    Eine kostbare Perle
    Dreiunddreissig Jahre von Artabans Leben waren inzwischen vergangen und sein Haar, einst dunkler als die Schroffen des Zagros, war jetzt weiß wie der Winterschnee. Sein Blick, einst blitzend wie Feuerflammen, war nur noch schwelende Aschenglut. Matt und müde und bereit zu sterben, doch noch immer ein Pilger auf der Suche nach dem König, war er ein letztesmal nach Jerusalem gekommen. Oft hatte er schon die heilige Stadt besucht und in all ihren Gassen, überfüllten Hütten und Kerkern geforscht, ohne eine Spur der Familie zu finden, die vor langer Zeit aus Bethlehem geflüchtet war. Doch jetzt hatte er das Gefühl,l er müsse noch einen letzten Versuch machen.
    Die Kinder Israel, verstreut über ferne Länder in aller Welt, waren am großen Passahfest zum Tempel zurückgekehrt. Die Stadt wimmelte von Fremden, und an diesem Tag herrschte eine besondere Gespanntheit. Der Himmel war verhüllt von unheilschwangerer Düsternis, und in der Menge vibrierte die Erregung. Das Geklapper der Sandalen und das leise, weiche Geräusch von Tausenden über die Steine schleifenden Füße zog sich unaufhörlich die Straße zum Damaskustor entlang. Als Artaban eine Gruppe parthischer Juden aus seiner Heimat erblickte, fragte er, wohin sie gingen.
    "Zu dem Ort vor den Stadtmauern, der Golgatha heißt", antworteten sie. "Hast du noch nicht davon gehört? Zwei berüchtigte Räuber sollen gekreuzigt werden und mit ihnen ein Mann, der Jesus von Nazareth heißt, der viele wunderbare Dinge unter den Menschen getan hat. Aber die Priester und Ältesten sagen, er muss sterben, weil er sich als Sohn Gottes ausgegeben hat. Und Pilatus läßt ihn kreuzigen, weil er gesagt haben soll, er sei "der König der Juden."
    Wie seltsam berührten diese vertrauten Worte das matte Herz Artabans! Ein Leben lang hatten sie ihn über Land und See geführt. Konnte dies derselbe Mann sein, bei dessen Geburt der Stern am Himmel erschienen war und von dessen kommen die Propheten geredet haben?
    "Die Wege Gottes sind seltsamer als die Gedanken der Menschen", sagte er sich. "Mag sein, dass ich endlich den König finde, wenngleich in der Hand seiner Feinde. Vielleicht komme ich zur rechten Zeit, um meine Perle als Lösegeld anzubieten, bevor er stirbt."
    So folgte der alte Mann der Menge zum Damaskustor. Gleich hinter dem Eingang des Wachhauses kam ein Trupp mazedonischer Soldaten die Straße herab, die ein junges Mädchen in zerrissenen Kleidern mit sich schleiften.
    Als der Magier stehenblieb, erblickte sie seine weiße Kappe und den Flügelkreis auf seiner Brust und riss sich eilig von ihren Peinigern los, um sich zu seinen Füßen zu werfen und seine Knie zu umklammern.
    "Habe Erbarmen", rief sie, "und rettet mich um des Gottes der Reinheit willen! Mein Water war ein Kaufmann aus Parthien, aber er ist gestorben, und mich hat man für seine Schulden verhaftet, damit ich als Sklavin verkauft werde. Rettet mich!"
    Artaban zitterte. Da war er wieder, der alte Zwiespalt in seiner Seele zwischen der Erwartung des Glaubens und dem Impuls der Liebe. Zweimal war ihm die Gabe, die er dem Glauben zugedacht hatte, von der Menschlichkeit aus der Hand gewunden worden - im Palmenhain in Babylon und in der Hütte in Bethlehem. Dies war die dritte Prüfung, die letzte große Entscheidung. War es die große Gelegenheit oder seine letzte Anfechtung? Er war sich unschlüssig. Nur eins war sicher: Dem hilflosen Mädchen zu helfen würde eine wahre Tat der Liebe sein. Und ist nicht die Liebe das Licht der Seele?
    Er zog die Perle aus seinem Gewand. Noch nie war sie ihm so leuchtend erschienen. Er legte sie in die Hand der jungen Sklavin. "Hier ist dein Lösegeld, meine Tochter - der letzte der Schätze, die ich für den König aufbewahrt hatte."
    Während er sprach, verdichtete sich die Finsternis, und zitternde Stöße liefen liefen durch den Grund. Die Erde hob sich krampfhaft wie die Brust eines Menschen, der mit tiefem Schmerz ringt. Hauswände gerieten ins Schwanken, Steine prasselten aufs Pflaster, Staubwolken füllten die Luft. Die Soldaten flüchteten voll Entsetzen. Artaban und das Mädchen, das er freigekauft hatte, kauerte hilflos an der Mauer des Wachhauses.
    Was hatte er zu fürchten, wofür sollte er noch leben? Seine letzte Hoffnung, den König zu finden, war dahin. Die Suche war vorüber, und sie war gescheitert. Doch selbst in diesem Gedanken, an den er sich gewöhnen, mit dem er sich befreunden musste, lag Friede. Es war keine Resignation. Er wusste, dass alles gut war, weil er von Tag zu Tag nach Kräften sein Bestes getan hatte. Er war dem Licht treu geblieben, das ihm erschienen war. Er hatte nach mehr gesucht. Und wenn er es nicht gefunden hatte wenn am Ende nur ein Scheitern blieb, dann war das gewiss das Bestmögliche. Hätte er sein Leben noch einmal leben können, er hätte nicht anders gehandelt.
    Noch ein letztes Nachbeben der Erde, und ein schwerer Ziegel, der sich auf dem Dach gelockert hatte, fiel herab und traf den alten Mann an der Schläfe. Das graue Haupt lag an der Schulter des Mädchens, und aus der Wunde sickerte Blut. Als sie sich, um sein Leben bangend, über ihn beugte, klang durch das Dämmerlicht eine Stimme wie ferne Musik, bei der die Töne klar und nur die Worte nicht zu verstehen sind.
    Die Lippen des alten Mannes bewegten sich, als antwortete er, und sie hörte ihn auf persisch sagen: "Aber nein, Herr. Denn wann habe ich dich hungrig gesehen und habe dich gespeist? Oder durstig und habe dich getränkt? Oder wann habe ich die krank oder gefangen gesehen und bin zu dir gekommen? Dreiunddreißig Jahre habe ich dich gesucht; aber nie habe ich dein Angesicht gesehen oder dir beigestanden, mein König."
    Er verstummte, und die süße Stimme ertönte wieder, sehr schwach und weit entfernt. Aber jetzt war dem Mädchen, als verstünde es die Worte: "Wahrlich, ich sage dir: Was du getan hast einem unter diesen meinen geringsten Brüder, das hast du mir getan."
    Ein stilles Strahlen erstaunter Freude erhellte das bleiche Gesicht Artabans gleich dem ersten Strahl der Morgenröte. Ein letzter langer, erleichterter Atemzug entrang sich sacht seinen Lippen. Seine Reise war zu Ende. Seine Schätze waren angenommen. Der vierte Weise hatte den König gefunden.



    ich wuensche allen einen beschaulichen 4ten Advent !!!

  • Jetzt ist Weihnachten zwar schon vorbei, aber ich habe eben noch eine schöne Weihnachtsgeschichte gefunden, und ich denke, es ist nie zu spät, so etwas zu lesen. Mit einem lieben Gruß an Nikolausi ;)

    “Mein Paul“

    Es war spät am Heiligen Abend. Die Kinder waren endlich eingeschlafen, und die Eltern genossen die Stille. Ewald zündete noch einmal die Kerzen am Christbaum an. “Jetzt haben wir Zeit, ihn in Ruhe zu betrachten “, sagte er. “Jetzt haben wir auch Zeit für unsere Post“, sagte Bettina und brachte viele Briefe und Karten, zwei Päckchen und ein Paket herbei. Sie hielt das Paket prüfend in den Händen: “Für mich, adressiert an Frl. Bettina Schön und an die Wohnung der Eltern. Dabei wohne ich seit zehn Jahren nicht mehr dort und heiße seit acht Jahren nicht mehr Schön. Mutter hat es nachgeschickt. Ohne Absender.“

    Rasch entfernte Bettina Schnur, Packpapier und den Deckel des Kartons, dann hielt sie überrascht inne. “Mein Paul“, sagte sie leise und holte aus viel Zeitungspapier ein seltsames Etwas hervor. Es war ein abgenützter Teddybär, bekleidet mit vielen warmen Kleidungsstücken, mit Socken, mit einem Schal um den Kopf. An den Pfoten war er gestopft, und die Schnauze in seinem lieben Gesicht war abgewetzt vom vielen Küssen und Streicheln.

    Bettina betrachtete ihn zärtlich: “Es ist mein alter, lieber Paulibär“, sagte sie erklärend. “Und woher kommt der so plötzlich?“ fragte Ewald. “Weiß ich nicht, vielleicht ist ein Brief dabei.“ Bettina setzte Paul in den nächsten Sessel und durchsuchte das Papier, während sie weiter sprach: “Er könnte von Fräulein Marianne kommen. Ich hab ihn ihr geschenkt. Da war ich gerade sieben. Kurz danach sind wir weggezogen und haben die Verbindung verloren. Ich war noch so klein. Ich weiß nicht einmal, wie Fräulein Marianne mit Nachnamen hieß.

    Ich hatte sie völlig vergessen. Ist schon mehr als zwanzig Jahre her ... Hier ist er!“ Sie zog einen Briefumschlag aus dem zerknüllten Papier. “An Bettina von Marianne Stein“ stand mit müden Buchstaben darauf; und darunter in anderer Handschrift: “Verstorben am 1. Dezember.“ Bettina nahm den Brief heraus und las: “Meine liebe Bettina, als ich am einsamsten war, hast Du mir geschenkt, was Du am liebsten hattest, Deinen Paul. Er war das Wertvollste, das mir jemals geschenkt wurde, denn er hat mir den Glauben an das Gute im Menschen erhalten, auch wenn ich oft anderes erleben musste. Ich danke Dir. Deine Marianne Stein.“

    Bettina setzte sich neben ihren Mann und erzählte: Du weißt, dass ich ein sehr einsames Einzelkind war. Vater verbrachte seine wachen Stunden in der Backstube, und Mutter die ihren im Laden. Zum dritten Geburtstag bekam ich einen Teddy, den Paul. Er wurde mein Freund. Er ersetzte Eltern und Geschwister. Ihm erzählte ich alles. Er tröstete mich. Wir waren Tag und Nacht zusammen. So ging er auch immer mit, wenn ich bei Fräulein Marianne Flötenstunde hatte. Sie war gelähmt, alt und arm und wohnte nicht weit von uns. Am Heiligen Abend schickte mich meine Mutter mit schön verpacktem Christstollen und Weihnachtsgebäck zu ihr und sagte: “Beeil dich, wir fangen mit der Bescherung an, wenn du zurück bist.“ Ich ging mit Paul.

    Es dämmerte schon. In Fräulein Mariannes Wohnung war es sehr dunkel. Ich gab die Sachen ab. Weil es so dunkel war, fragte ich: “Wann fängt denn bei dir Weihnachten an?“ - “Jetzt gleich.“ - Sie bewegte sich im Rollstuhl zum Tisch, zündete die einzige Kerze an und legte Mutters Päckchen daneben. Das war alles. - Ich war nicht zufrieden. “Wir singen, ihr Kinderlein kommet“, bat ich. Es war mein und Pauls Lieblingslied und Singen gehört zu Weihnachten. Wir sangen. Nach dem dritten Vers wollte ich gehen. In Pauls Glasaugen spiegelte sich der Schein der einzigen Kerze, und an der Wohnungstür flüsterte er: “Ich will hier bleiben!“ - Ich verstand meinen Paul immer - und ohne zu überlegen ging ich zurück zu der einsamen Frau. “Er will mit dir Weihnachten feiern“, sagte ich und setzte ihr meinen lieben Paul auf den Schoß, und lief davon, laut heulend durch die Straßen. Meinen erschrockenen Eltern konnte ich nur sagen: “Mein Paul wollte bei Fräulein Marianne bleiben. Sie war so allein.“ Es war ein tränenreiches Weihnachtsfest.

    Ich habe Paul oft besucht. Er saß immer in der rechten Sofaecke. Er freute sich, wenn ich kam, aber er wollte bleiben. Nach einer Pause sagte Bettina leise:

    „Dass ein siebenjähriges Kind spürt, der Mensch neben ihm braucht Trost - und dass es ihn tröstete, auch wenn es ihm bitter weh tat - woher kam die Kraft dazu? Von Weihnachten?“